Stellungnahme der DGIIN: SARS-CoV-2 Impfstatus kann und darf nicht als Grundlage einer Behandlungsentscheidung dienen

Uwe Janssens und Christian Karagiannidis für den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN)

Angesichts steigender Zahlen von COVID-19-Patient:innen auf deutschen Intensivstationen (1.363 Patient:innen, davon 58% beatmete Patient:innen, Stand 01.10.2021) [3] und der sich abzeichnenden Zunahme dieser Patient:innen in den kommenden Wochen, bestehen bei den Mitarbeitenden in den Krankenhäusern erhebliche Sorgen und Ängste vor einer erneuten zunehmenden Belastung und Überlastung. Die seit Ende vergangenen Jahres verfügbaren Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 und die Impfkampagne erzielten bereits deutliche Effekte: Es wurden nach Berechnungen des Robert Koch-Instituts mehr als 75.000 stationäre und fast 20.000 intensivmedizinische Fälle sowie mehr als 38.000 Sterbefälle verhindert [7]. Somit schützen die Impfungen gegen SARS-CoV-2 vor einer Hospitalisierung von infizierten Patient:innen und insbesondere vor schweren Krankheitsverläufe mit der Notwendigkeit einer intensivmedizinischen Behandlung. Der aktuelle Wochenbericht des Robert .Koch-Instituts zeigt sehr deutlich, dass die Hospitalisierungsinzidenz der vollständig geimpften Bevölkerung in den Altersgruppen 18-59 Jahre und der ab 60-jährigen zu jedem Zeitpunkt deutlich unter der Hospitalisierungsinzidenz der ungeimpften Bevölkerung liegt [6].

Vor diesem Hintergrund macht sich Unmut bis hin zur Verärgerung unter den Mitarbeitenden in den Krankenhäusern und vor allem auf Intensivstationen breit. Die überwiegende Mehrheit der aktuell wegen einer COVID-19-Erkrankung behandelten Patient:innen auf den Intensivstationen ist nach Angaben des RKI ungeimpft. Angesichts des freien Zugangs zur Impfung gegen SARS-CoV-2, die nur für wenige Menschen z.B. aus gesundheitlichen Gründen nicht zur Verfügung steht, könnten somit viele der derzeit schweren Krankheitsverläufe im Gegensatz zum vergangenen Jahr verhindert werden. Der DGIIN ist sehr wohl bewusst, dass im zweiten Jahr der Pandemie und angesichts der Möglichkeit eines wirksamen Schutzes durch die Impfung einzelne Mitglieder eines Behandlungsteams bei der Behandlung eines ungeimpften COVID-19 Patienten-nachvollziehbar stark emotional belastet sind und körperlich beansprucht werden. Im Rahmen von regelmäßigen Teambesprechungen sollten daher solche Aspekte offen angesprochen, diskutiert und ggf. Hilfsangebote organisiert werden.

Die Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin nimmt jedoch unabhängig hiervon eine klare Position ein: Der Impfstatus darf bei Behandlungsentscheidungen sowohl bei der Aufnahme in das Krankenhaus, auf die Intensivstation und im Verlauf einer Therapie und Pflege keine Rolle spielen. Soziale Merkmale, das kalendarische Alter, Religionen, Grunderkrankungen oder Behinderungen, aber auch persönliche Hintergründe und Haltungen der Patient:innen dürfen auf Grund des Gleichheitsgebots keinen Einfluss auf die Entscheidungen im Behandlungsverlauf von Patient:innen mit und ohne COVID-19 nehmen [5]. Insbesondere darf somit auch der Impfstatus keine Grundlage für eine Entscheidung für oder gegen die Aufnahme und Behandlung auf eine Intensivstation sein. Hier sind allein die medizinische Indikation und ein sinnvolles patientenzentriertes Therapieziel die Grundlage der Entscheidung. Dieses gilt auch und explizit für den derzeit unwahrscheinlichen Fall eingeschränkter bis nicht mehr vorhandener Ressourcen bei einer Überlastung des Gesundheitssystems.

In diesem Zusammenhang verweist die DGIIN darauf, dass es viele Risikokonstellationen gibt, die auf Grund der persönlichen Haltung und Lebenseinstellungen der jeweiligen Personen schwerwiegende Krankheitsverläufe nach sich ziehen können. Dazu zählen u.a. Raucher:innen, adipöse Patient:innen, die Ausübung von risikobehafteten Sportarten oder chronischer Substanzabusus. Die sich daraus ergebenden Erkrankungen werden ebenfalls ohne jegliche Einschränkung behandelt, sofern ein sinnvolles Therapieziel besteht. Das gesamte Gesundheitssystem und insbesondere die gesetzliche Krankenversicherung bauen auf ein Solidaritätssystem auf. Zwar sind die Versicherten laut Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) für ihre Gesundheit mitverantwortlich [2]: „Sie sollen durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden“. Das bedeutet aber keinesfalls ein Verursacher- oder gar ein Schuldprinzip einzubauen. Ob geimpft oder umgeimpft: Alle Patient:innen erhalten bei entsprechender Indikation die gleiche Behandlung und Pflege. Immer ist das ethische Grundprinzip der „Gerechtigkeit“ (Gleichheit, „justice“) leitend [1]: Gleiche Fälle müssen gleich behandelt werden.

Das ärztliche Gelöbnis des Weltärztebundes („Deklaration von Genf“) aus dem Jahr 2017, aber auch der ICN-Ethikkodex für Pflegende muss als Grundlage unserer Haltung beachtet und umgesetzt werden [4, 8]:

„Ich werde nicht zulassen, dass Erwägungen von Alter, Krankheit oder Behinderung, Glaube, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktoren zwischen meine Pflichten und meine Patientin oder meinen Patienten treten.“

Diese rote Linie medizinisch ethischen Handelns darf niemals überschritten werden. Hierzu bekennt sich der DGIIN mit allem Nachdruck.

Unabhängig davon bleibt der dringende Appell an die bisher noch nicht geimpften Personen: Nehmen Sie das Impfangebot wahr! Die Impfung ist sicher und schützt Sie, aber auch Ihre Mitmenschen vor einer Infektion und besonders vor schweren Krankheitsverläufen.

Hier gelangen Sie zur Pressemeldung der Stellungnahme

  1. Beauchamp TL, Childress JF (2009) Principles of Biomedical Ethics. Oxford University Press, New York - Oxford
  2. Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (1988) Sozialgesetzbuch (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung - (Artikel 1 des Gesetzes v. 20. Dezember 1988, BGBl. I S. 2477) § 1 Solidarität und Eigenverantwortung. In: https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__1.html Letzter Zugriff am 03.10.2021
  3. Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) (2021) DIVI-Intensivregister. In: https://www.intensivregister.de/#/aktuelle-lage/reports Letzter Zugriff am 1.10.2021
  4. International Council of Nurses (2012) The ICN code of ethics for nurses. In: https://www.dbfk.de/media/docs/download/Allgemein/ICN-Ethikkodex-2012-deutsch.pdf Letzter Zugriff am 04.10.2021
  5. Marckmann G, Neitzke G, Schildmann J et al. (2020) Entscheidungen uber die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie : Klinisch-ethische Empfehlungen der DIVI, der DGINA, der DGAI, der DGIIN, der DGNI, der DGP, der DGP und der AEM. Med Klin Intensivmed Notfmed 115:477-485
  6. Robert Koch-Institu (RKI) (2021) Wöchentlicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) 30.09.2021 – AKTUALISIERTER STAND FÜR DEUTSCHLAND.
  7. Waize M, Scholz S, Wichmann O et al. (2021) Die Impfung gegen COVID-19 in Deutschland zeigt eine hohe Wirksamkeit gegen SARS-CoV-2-Infektionen, Krankheitslast und Sterbefälle. Epid Bull 35:3-10
  8. Weltärztebund (2017) Deklaration von Genf - Das ärztliche Gelöbnis. In: https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/International/bundersaaerztekammer_deklaration_von_genf_04.pdf Letzter Zugriff am 1.10.2021

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